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HAIC Awards 2025: Wenn KI Wahrhaftiges sichtbar macht

HAIC Awards 2025: Wenn KI Wahrhaftiges sichtbar macht

6. Januar 2025, Kent Club: Die ersten HAIC Awards – ein neues Format, KI-Kreation im Fokus, 270 Einreichungen. Ich wusste nicht genau, was mich erwarten würde, als ich hinfuhr. Wird das richtig inspirierend – oder eine Parade technisch perfekter, aber austauschbarer Hochglanzbilder?

Als jemand, der beruflich an der Schnittstelle von Kreativität und Strategie arbeitet, stellt sich mir diese Frage inzwischen fast täglich: Wo verläuft die Grenze zwischen technischer Machbarkeit und kreativer Vision? Zwischen dem, was machbar ist, und dem, was gemacht werden sollte?

Der Kent Club selbst war schon mal eine gute Wahl: kein steriler Konferenzraum, sondern eine coole Location, in der man sich sofort wohlfühlte. Was sicher auch an der persönlichen Begrüßung durch die Initiatoren lag. Patrick Hoppe, Daniel Weiss, Dominik Geiger und Andreas Reimann erzählten zu Beginn der Veranstaltung kurz, wie aus der spontanen Idee für eine Weihnachtsfeier der erste Hamburger Creator Award im Bereich KI entstand. Organisatorin Andrea Drews nahm die Gäste persönlich in Empfang.

Eingang Kent Club – HAIC Awards 2025
Reno Mezger und Rapperin Charlize – Echtzeit-AI-Poesie Rote Rosen – HAIC Awards 2025

Director Reno Mezger und Rapperin Charlize. Foto: Stefan Trocha

Drag, KI und eine überraschende Parallele

Und dann ging es los. Drag Queen Didine van der Platenvlotbrug führte im schillernden Outfit durch den Abend – und zog gleich zu Beginn eine überraschende Parallele, die sich für mich als roter Faden durch die gesamte Veranstaltung ziehen sollte:

„Mit KI ist es wie mit dem Drag: Künstlichkeit kann etwas sehr Wahrhaftiges zum Vorschein bringen.“

Ein Satz, der zunächst wie eine charmante Randbemerkung klang, aber je länger der Abend dauerte, umso mehr Gewicht bekam. Denn genau darum ging es in vielen der prämierten Arbeiten: KI als Werkzeug, um Visionen zu verwirklichen, für die man bisher schlicht nicht die Mittel hatte. Um etwas sichtbar zu machen, das vorher nur im Kopf existierte.

In den Gesprächen am Rande wurde dieser Gedanke immer wieder aufgegriffen. KI ermöglicht Kreativen, Ideen umzusetzen, zu denen sie ohne diese Technologie keinen Zugang gehabt hätten – sei es aus Mangel an Budget, an technischem Know-how oder schlicht an Zeit. Die Künstlichkeit der Werkzeuge steht der Authentizität der Vision nicht im Weg. Im Gegenteil: Sie kann sie erst möglich machen.

Wenn Ästhetik für sich spricht

Die verschiedenen Kategorien zogen über die Leinwand. Die Stills wurden etwas kurz gezeigt – hier hätte ich mir etwas mehr Raum gewünscht, die Bilder zu betrachten, denn auch dort waren spannende Arbeiten dabei. Aber es waren zwei Projekte im Bereich Bewegtbild, die mich besonders begeisterten.

Das Projekt „Rote Rosen“ – eine Zusammenarbeit zwischen Director Reno Mezger und Rapperin Charlize – überzeugte durch eine ganz eigene ästhetische Sprache. Echtzeit-AI-Poesie, bei der Charlize ihren Song performte und ihre Bewegungen von der KI in kubistisch-poetische Bilder umgewandelt wurden. Besonders interessant: Mezger erklärte auch ein paar Hintergründe zur Entstehung des Videos. Diese Transparenz half, die Arbeit einzuordnen und zeigte: Hier hat jemand nicht einfach einen Prompt in ein Tool geworfen, sondern ganz bewusst gestaltet.

Diese Einordnung wäre meiner Meinung nach auch bei den anderen Einreichungen hilfreich gewesen. Man sah beeindruckende Bilder, aber wusste nicht genau: Wie ist das gemacht worden? Zu welchem Zweck? Mit welchem Budget? Mit welchen Werkzeugen? Welche kreativen Entscheidungen steckten dahinter? Entlang dieser und ähnlicher Fragen könnten – für hoffentlich kommende Ausgaben des Awards – auch die Kategorien noch etwas trennschärfer werden.


Rekonstruktion des Niedagewesenen

Das zweite große Highlight des Abends war Sean Weingartens Kurzfilm „Gap Years“ – ein autobiografisches Projekt, das Bronze holte, aber aus meiner Sicht noch mehr verdient gehabt hätte. Auch wenn ich hier vielleicht nicht ganz objektiv bin – der Film berührte mich auf gleich mehreren Ebenen. Weingarten kombiniert VHS-Filme aus seiner Kindheit mit neueren Interviews seiner Familienangehörigen. Das dokumentarische Material ergänzt er mittels KI zu einer unheimlichen audiovisuellen Rekonstruktion jenes Weihnachtsfests, in dem sein Vater zur Leerstelle in seinem Leben wurde. Erzählerisch macht er anhand von Perspektivwechseln sichtbar, wie vermeintliche Gewissheiten in Beziehungen sich als Illusionen entpuppen können.

Was beide Arbeiten gemeinsam haben: Sie nutzen KI nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel, um etwas zum Ausdruck zu bringen, das ohne diese Technologie so nicht möglich gewesen wäre. Die Künstlichkeit des Werkzeugs macht die Wahrhaftigkeit der Vision sichtbar.

Die Zukunftsfrage: Wer hat Geschmack?

Im Gespräch mit Jurorin Dr. Susanne Eigenmann fiel ein interessanter Satz: Bei der Jurierung der 270 Einreichungen habe sich relativ schnell herauskristallisiert, welche Arbeiten in die engere Auswahl kommen. Nicht alle Jurymitglieder hätten dieselben Top-Favoriten gehabt, aber die herausragenden Projekte seien doch von vielen übereinstimmend erkannt worden.

Das bringt mich zu dem, was aus meiner Sicht die eigentliche Kernkompetenz der Kreativbranche in der KI-Ära sein wird: ästhetisches Urteilsvermögen.

Nicht die Frage, ob etwas technisch perfekt oder unperfekt ist. Sondern die Fähigkeit, einen eigenen Stil zu entwickeln, zu erkennen, was aus der Masse heraussticht – und zu begründen, warum. Geschmack ist nicht demokratisch, aber er ist auch nicht beliebig. Er lässt sich schulen, diskutieren, weiterentwickeln.

Wenn KI-Tools es immer mehr Menschen ermöglichen, visuell hochwertige Inhalte zu produzieren, wird die Frage „Wie mache ich das?“ weniger relevant. Die entscheidende Frage wird sein: „Was mache ich – und warum?“ Die Kreativszene wird gebraucht als kuratorische Instanz, als Geschmacksbildner:innen, als diejenigen, die zwischen austauschbar und bedeutsam unterscheiden können.

Bettina Knoth, Sean Weingarten, Helene Berling, Christoph Jehlicka – HAIC Awards 2025

Bettina Knoth, Sean Weingarten, Helene Berling und Christoph Jehlicka. Foto: Stefan Trocha

Initiatoren, Jury, Gewinner*innen – HAIC Awards 2025

Props und Verbesserungspotenzial

Respekt an die Veranstalter für den Mut, ein solches Format zu etablieren. Die HAIC Awards füllen eine Lücke – einen Raum, in dem KI-gestützte Kreativarbeit nicht nur gezeigt, sondern auch diskutiert und gewürdigt werden kann.

Gleichzeitig gibt es für die nächste Ausgabe ein paar Stellschrauben, an denen man drehen könnte:

  • Kategorien überdenken: Die aktuelle Aufteilung ist ausbaufähig. Vielleicht weniger danach, was produziert wurde (Stills, Videos), sondern mehr danach, wie KI eingesetzt wurde (assistierend, generativ, experimentell)?
  • Mehr Transparenz bei der Präsentation: Ein kurzer Einblick in Tools, Workflows und kreative Entscheidungen würde den Arbeiten mehr Tiefe geben – und dem Publikum mehr Verständnis.
  • Mehr Raum für Stills: Die Arbeiten verdienen es, länger gezeigt zu werden. Schnelle Durchläufe werden der Qualität nicht gerecht.

Aber das sind Feinheiten. Dass es die HAIC Awards jetzt gibt, ist das Wichtigste. Ein solches Format braucht die Branche.

Künstlichkeit, Wahrhaftigkeit – und die Frage nach dem Warum

Zurück zu Didines Satz über Künstlichkeit und Wahrhaftigkeit. Vielleicht ist das die beste Art, über KI in der Kreativbranche nachzudenken. Nicht als Bedrohung für Authentizität, sondern als Werkzeug, das neue Formen von Authentizität ermöglicht. Als Technologie, die es erlaubt, Visionen zu verwirklichen, die sonst unerreichbar geblieben wären.

Die Frage ist nicht, ob wir KI nutzen. Die Frage ist, wofür – und ob wir dabei unseren Geschmack, unsere ästhetische Haltung, unsere Vision behalten. Die Kreativszene wird gebraucht. Nicht als Bedienende von Tools, sondern als diejenigen, die wissen, was es wert ist, gemacht zu werden.

Mehr zu den HAIC Awards findest Du hier
Alle Gewinnerfilme sind auf Youtube zu sehen.

Garderobenticket gegen diesen Schein – HAIC Awards 2025

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Wir müssen reden – aber vielleicht weniger übereinander?

Wir müssen reden – aber vielleicht weniger übereinander?

Design Business Days 2025: Zwei Tage voller KI-Cases, Workshops und Strategietalks. Und einem Moment, der vielleicht mehr über die Kreativbranche verrät als alle Keynotes zusammen. Ein Recap.

Design Business Days 2025 - Anne Kaiser und Conrad Breyer
Strategie-Workshop von Till Oyen (Radikant)

Curio-Haus, Hamburg Rothenbaum, am späten Vormittag des 2. Oktober. Die Design Business Days 2025 laufen seit etwas mehr als 24 Stunden, und im Workshop spekuliert ein Raum voller Kreativer darüber, wie Entscheider:innen in mittelständischen Unternehmen wohl ticken. Wahrscheinlich „eher konservativ“, vermuten gleich mehrere Designer:innen. Und sicher haben sie „Angst vor Veränderung und Innovationen“. 

Auf dem Stuhl neben mir, im hinteren Drittel des Raums, rutscht eine junge Frau im Businessdress unruhig hin und her. Mehrfach versucht sie, sich bemerkbar zu machen. Vergeblich. 

In der Mittagspause kommen wir ins Gespräch. Ich frage nach, was sie so nervös gemacht hat. Es stellt sich heraus: Sie ist Marketingleiterin eines mittelständischen Maschinenbauunternehmens – eine der wenigen Vertreterinnen aus der Industrie auf der Veranstaltung. Und sie ist alles andere als einverstanden mit den Zuschreibungen aus dem Workshop. Ihr Unternehmen sei alles andere als innovationsscheu und konservativ … 

Eine kleine Anekdote nur. Aber sie bringt auf den Punkt, worum es an beiden Event-Tagen eigentlich ging. Doch der Reihe nach:

KI: Weniger Drama, mehr Klarheit

Die dritte Ausgabe der Design Business Days legte viel Gewicht auf das Empowerment der Kreativbranche. Leitfrage: Wie können Kreativschaffende in Zeiten von KI ihren Stellenwert behaupten bzw. neu definieren?

Mein Eindruck: Die Antworten werden konkreter und deutlich weniger mantrahaft. Der Hype (wahlweise: die Angst) weicht langsam einem Verständnis für die tatsächlichen Grenzen und Möglichkeiten der Technologie.

Ein Beispiel: Der Case „Eternal Bloom“ von Jan Kruse (Fork Unstable Media) und Aaron Hahn (SWR). Für die Schwetzinger SWR Festspiele wurde eine neue CI geschaffen – visuell ansprechendes Hochglanz-Design, basierend auf den geometrischen Strukturen der barocken Schlossanlage, optimiert für digitale Anwendungen. Als belebendes Element: animierte Sequenzen von farbgewaltigen Blumen-Close-Ups.

Auf die Publikumsfrage, welcher Teil des Designsystems denn KI-generiert sei, stellte sich heraus: nur die floralen Bildsequenzen. Ein relativ kleiner Teil der gesamten Arbeit also. Eine Antwort, die manche enttäuscht, andere beruhigt haben wird.

Was heißt das für die Praxis? KI ist Werkzeug, nicht Wundermittel. Und: Die Marketing-Kommunikation von Projekten überhöht oft den KI-Anteil – was unrealistische Erwartungen schürt.

Noch interessanter aber: Dieser Case hat dafür gesorgt, dass die Rechtsabteilung des SWR (und in dem Zusammenhang auch die der ARD) ein eigenes Konzept für die Nutzung von generativer KI im öffentlich-rechtlichen Rundfunk erstellt hat. Ein starkes Beispiel dafür, wie Kreativschaffende als Early Adopter gesellschaftlichen Wandel anstoßen.

Use Case von Aaron Hahn (SWR) und Jan Kruse (Fork Unstable Media)
Use Case von Jasper Krog und Simon Graff

Wo der Business Case klar ist, wird’s ernst

Dass dieser Wandel in der freien Wirtschaft oft schneller vollzogen wird, zeigte der Case von Simon Graff und Jasper Krog (Gebr. Heinemann): „AI goes Business“. Die beiden gaben lebhafte Einblicke in ihre Zusammenarbeit und verdeutlichten, an welchen Stellen KI-Anwendungen sinnvoll in den Design-Prozess integriert werden können – und an welchen nicht. Zudem präsentierten sie Strategien, um Mitarbeiter:innen mitzunehmen, Ängste abzubauen und Nutzen niedrigschwellig erfahrbar zu machen.

Gleichzeitig wurde klar: Wo der ökonomische Vorteil der KI-Nutzung eklatant ist – etwa bei der Produktion von werblichem Bildmaterial mit kurzer Halbwertzeit – werden Unternehmen künftig immer weniger auf konventionelle Weise Content erstellen (lassen).

Was heißt das für die Praxis? Kreative sollten nicht gegen KI argumentieren, wo der Business Case eindeutig ist. Stattdessen: den eigenen Mehrwert dort positionieren, wo menschliche Expertise unersetzlich ist – Strategie, Konzeption, Kontextverständnis.

Strategisch denken heißt: zuhören

An Tag 2 ging es verstärkt um die strategische Positionierung von Designer:innen in der Business-Landschaft. Markenberaterin und Autorin Maren Martschenko sprach über das Thema ihres Longsellers „Design ist mehr als schnell mal schön“. Sie gab hands-on Beispiele für strategische Fragen im Designkontext und umriss die künftige Rolle der Kreativen als strategische Sparringspartner:innen auf Augenhöhe mit dem Management.

Im Workshop „Strategisch denken für Designer:innen“ stieg Radikant-Co-Founder Till Oyen dann tiefer in dieses Thema ein – unter anderem, indem er Einblicke in die Denk- und Handlungsmuster von Unternehmensvertreter:innen vermittelte. Er gab viele gute Hinweise, um die Partner:innen auf Unternehmensseite besser zu verstehen und zu überzeugen.

Und dann passierte es: die eingangs beschriebene Szene mit der Marketingleiterin.

Ein wenig sinnbildlich für den Status Quo, oder? Da wird über strategische Positionierung auf Augenhöhe gesprochen – und gleichzeitig spricht ein Raum voller Kreativer über „die Unternehmen“, als wären sie eine homogene Masse rückständiger Bedenkenträger. Während eine echte Vertreterin genau dieser Unternehmen im Raum sitzt. Und nicht gehört wird.

Was heißt das für die Praxis? Strategisch denken beginnt mit echtem Interesse an der anderen Seite. Nicht mit Projektionen und Annahmen. Vielleicht sollten wir öfter die eigene Echokammer verlassen – und tatsächlich mit den Menschen reden, für die wir gestalten wollen.

Keynote von Mara Martschenko
Keynote von Antje Kruse-Schomaker (IBM iX)

Keine Simulation ersetzt das Gespräch

Diese Erkenntnis unterstrich auch die abschließende Keynote „The State of Digital Design“ von Antje Kruse-Schomaker (IBM iX). Sie betonte die hohe Qualität, die KI bereits bei analytischen Aufgaben wie der Persona-Erstellung liefert – wies aber explizit darauf hin, dass keine Simulation die echte Recherche und das Gespräch mit der Zielgruppe ersetzt.

Ein Satz, der in seiner Schlichtheit nach zwei Tagen zum Kern vordringt: Technologie kann vieles simulieren. Aber wir leben und arbeiten immer noch in der Wirklichkeit.

Vielleicht ist die eigentliche Disruption also gar nicht die KI. Sondern die Frage, ob wir endlich lernen, miteinander statt übereinander zu reden. Die Werkzeuge dafür haben wir längst – sie sind nur nicht generativ, sondern kommunikativ.

Die Marketingleiterin übrigens hat mir in der Pause erzählt, dass ihr Unternehmen gerade ein großes Re-Branding plant. Mit externer Agentur. Ich hoffe, die Agentur hört besser zu als die Kreativen im Workshop-Raum.

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Warum ich nie Werbetexte schreiben wollte …

Warum ich nie Werbetexter werden wollte

Warum ich nie Werbetexte schreiben wollte …

… und es inzwischen mit Freude und Überzeugung tue.

Werbung ist Volksverdummung. Langweilig. Überflüssig. Irreführend. Werbung machen bedeutet: Verkaufen um des Verkaufens Willen. Überkonsum ankurbeln. Lügen.

Alles richtig. Alles falsch. Ein paar persönliche Erkenntnisse.

Dieser Beitrag ist rein beruflich. Dieser Beitrag ist recht persönlich. Ich arbeite – mit unterschiedlicher Intensität – seit mehr als 15 Jahren als Werbetexter. Ich habe Texte für Websites, Newsletter und Mailings geschrieben. Texte für Flyer, Broschüren, Anzeigen und vieles mehr. Ich habe als Texter in Agenturen und als Freelance-Texter gearbeitet. Ich habe im letzten Jahr jede Menge Zeit und Energie investiert, um mich als Werbetexter zu positionieren. Du bist gerade auf meiner Website. Hier geht es (fast) ausschließlich um Werbetexte. Trotzdem wollte ich nie Werbetexter werden.

Wie passt das zusammen? Die kurze Antwort: Innere Haltungen können sich ändern.

Die ausführliche Antwort? Begann mit einem Anruf im Dezember 2021.

Eine frühere Kollegin aus meiner ersten Agenturstation rief mich nach langer Funkstille mal wieder an. Ob ich noch texten würde? Sie bräuchte einen Werbetexter für die Website einer Hamburger Stiftung. Ich bejahte. Vermutlich mit der mangelnden Euphorie und Überzeugung, die ich zu jener Zeit für diese Tätigkeit empfand. Beiläufig – und etwas amüsiert, wie mir schien – merkte sie an, dass ich ja nicht einmal eine eigene Website hätte. Ich ging nicht weiter darauf ein. Sie umriss kurz das anstehende Projekt und sagte, dass sie sich zeitnah mit weiteren Infos melden würde. So verblieben wir vorerst.

Wozu?, fragte ich mich, nachdem wir aufgelegt hatten.

WOZU BRAUCHE ICH EINE WEBSITE?

Ich befand mich in einer Art beruflicher Findungsphase – die allerdings schon seit einigen Jahren andauerte. Ich war seit längerer Zeit Freelancer. Alle paar Wochen kamen Übersetzungsaufträge rein, hin und wieder ein Textjob. Die meisten beruflichen Gedanken kreisten um die Arbeit an meinem neuem Buch. Zwei Jahre zuvor hatte ich meinen Debütroman veröffentlicht. Nicht ohne Erfolg bei Kritik und Publikum. Doch obwohl die erste Auflage innerhalb weniger Monate vergriffen war, ließ sich nicht länger verdrängen, dass die Sache ein wirtschaftliches Desaster war. (Zur groben Einordnung: Mit den Verkäufen des Buches, an dem ich ca. 5 Jahre gearbeitet hatte, verdiente ich in etwa soviel, wie heute in einem halben Monat. Der Literaturbetrieb – das Eldorado (sic!) der Selbstausbeuter:innen.) Trotzdem stand fest: Ich wollte nichts weniger, als Werbetexter sein.

Gründe dafür gab es viele. Ein Auszug aus der Liste meiner damaligen Glaubenssätze.

GLAUBENSSÄTZE ÜBER DIE WERBUNG

Werbung ist langweilig.

Werbung ist Volksverdummung.

Werbung ist überflüssig.

Werbung ist irreführend.

Werbung bedeutet: Verkaufen um des Verkaufens Willen.

Werbung bedeutet: Dinge verkaufen, die niemand wirklich braucht.

Werbung bedeutet: Überkonsum ankurbeln.

Werbung bedeutet: lügen.

Und vor allem: Werbetexte zu schreiben, ist unter meinem Niveau.

Schließlich war ich doch dazu bestimmt, Schriftsteller zu sein, Romane zu schreiben – das Wahre, Schöne, Gute!

GUTE WERBUNG, SCHLECHTE WERBUNG

Das Interessante: Viele dieser Sätze würde ich heute noch unterschreiben. Es stimmt: Ein Großteil der Werbung, die tagtäglich auf uns einprasselt, ist langweilig, überflüssig, irreführend. Viele Produkte und Dienstleistungen, die darin angepriesen werden, sind verzichtbar – oder sogar schädlich für Mensch und Umwelt. Unfassbare Summen werden für fragwürdige Marketingkampagnen verpulvert, die überteuerte Produkte in übersättigte Märkte pushen.

Aber.

Der große Unterschied zu damals: Ich würde die Sätze nicht mehr in ihrer Allgemeingültigkeit unterschreiben. Es sind keine Glaubenssätze mehr. (Wer und was mir dabei geholfen hat, hinderliche Glaubenssätze über Bord zu werfen, schreibe ich bei anderer Gelegenheit …)

Wichtig im jetzigen Kontext: Ich habe neue Erkenntnisse gewonnen. Und zum Teil auch alte Erkenntnisse reaktiviert. Denn:

Werbung kann unterhaltsam sein.

Werbung kann Aufklärungsarbeit leisten.

Werbung kann zu gesellschaftlichen Debatten beitragen.

Werbung sagt sogar manchmal die Wahrheit.

Für mich persönlich aber die wichtigste Erkenntnis: Werbetexte zu schreiben, ist nicht zwangsläufig unter meinem Niveau.

Vielmehr liegt es an mir selbst, was ich daraus mache.

ICH HEBE DAS NIVEAU DER WERBETEXTE

Wenn ich für Kund:innen, Produkte oder Dienstleistungen werbe, die mir am Herzen liegen, kann das sehr erfüllend sein. Ich lerne neue Persönlichkeiten, Welten und Sichtweisen kennen – und verhelfe anderen Menschen mit meinem Wissen und meinen Fähigkeiten zu mehr Erfolg. Was könnte schöner sein?

Auch das Vorurteil, Werbung sei immer oberflächlich, hat sich als falsch herausgestellt. Gerade der Prozess, der dem Texten vorausgeht, ist oft sehr intensiv und tiefgreifend. Die Gespräche mit Unternehmer*innen und Kolleg*innen, das Eintauchen in neue Geschäftswelten, das Herausarbeiten von Unternehmenswerten und persönlichen Antrieben – all das ist hochinteressant, herausfordernd und herrlich abwechslungsreich.

Zur Zeit arbeite ich an mehreren Projekten, bei denen es – neben der verbesserten Außendarstellung durch Werbetexte – auch um die strategische Neuausrichtung der Kund:innen geht. Für mich eines der spannendsten Felder im Bereich des unternehmerischen Handelns – direkt an der Schnittstelle von Kerngeschäft, Mitarbeiterführung und Marketing. (Auch darüber berichte ich ein anderes Mal gern ausführlicher …)

Inzwischen freue ich mich über jeden Anruf meiner früheren Kollegin und über jede neue Anfrage. Ich arbeite wirklich gern als Werbetexter – obwohl ich nie einer werden wollte.

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